Sonntag, 2. August 2020
Was ist Suchtverlagerung?
Via Facebook entstand kürzlich ein kleiner Disput mit Kumpel R., der meinte, dass ich den Suchtdruck ja anders abbauen könnte, z.B. indem ich ein "Tütchen rauchen" könnte.

Öhm. Nö. Blöde Idee. Ganz blöde.

Ich gehöre zu den Menschen, die unterschiedliche Dinge ziemlich extrem betreiben. Also wenn ich mal etwas mag, dann mache ich es auch richtig (Wie meinte Freund B. kürzlich über meine Liebe zum MCU? "Ähem, das ist etwas eskaliert bei Dir...") Und laufe dabei des öfteren in Gefahr, in eine andere Sucht zu rutschen. Das geht den meisten Süchtigen so.

Während der Langzeittherapie vor 8 Jahren hatte ein Mitpatient seine Alkoholsucht auf Spielsucht geändert. Er saß den lieben langen Tag vor dem einzigen PC in der Cafeteria und daddelte irgendein 3-gewinnt-Spiel. Stun-den-lang.
Was zum einen natürlich nicht gut für ihn war (man sollte exzessives Daddeln tunlichst vermeiden, auch ohne eine andere Sucht), zum anderen aber auch für die anderen Patienten ziemlich ärgerlich, weil der PC dazu gedacht war, in Kontakt mit Ämtern, Behörden, Jobbörsen etc. zu treten. Ihn da mal für 5 Minuten weg zu bekommen, artete regelmäßig in Gebölk und Schimpfen aus. Beiderseits.

Und Tütchen rauchen geht halt schon mal gar nicht. So angenehm es wäre, mal das Hirn mithilfe von anderen Substanzen ausknipsen zu können: das gilt nicht für Suchtkranke. Niemals. Wir haben eine Affinität zu Rauschmitteln aller Art. Nicht nur BTM, sondern das kann sich auch als Sportsucht, Sexsucht oder anderes darstellen.

Die Balance zu finden, das ist der Knackpunkt. Ich habe für mich als Beispiel stricken wiederentdeckt. Vor 8 Jahren fing ich an und seitdem ver- und bestricke ich alles, was bei drei nicht aufm Baum ist.

Letzten Winter habe ich 40 Paar Socken fabriziert und sie dann zum Elbschlosskeller gebracht. Hey, Neil Gaiman hat meinen Tweet darüber gefavet! (immer noch werde ich knallrot werde bei dem Gedanken daran...). Derzeit fummel ich an einem Pulli herum, danach wird eine Jacke dran sein. Mal so zwischendurch gab es ein Paar Bettsocken aus quietschgelber Flauschwolle für eine Mitpatientin.
Bin ich "leicht" stricksüchtig? Jupp. Auf jeden Fall. Wenn ich keine Wolle mehr habe, ribbel ich alte Pullis auf und stricke sie nochmal. Ich habe mir tatsächlich aus dem Hobby eine Suchtverlagerung gestrickt (sic!).

Allerdings finde ich das nicht wirklich schlimm. Ich regel ja nach wie vor meinen Tagesablauf, also ich räume auf, putze, gehe duschen, koche Essen und gehe - irgendwann mal wieder - arbeiten. Und freue mich wie ein kleines Kind auf den Abend, wenn ich mich wieder kopfüber in meinen riesigen Wollkorb werfen kann :)

Aber die Alkoholsucht auf anderen Konsum zu übertragen ist nun mal nicht ratsam.

Man bekämpft eine Sucht nicht dadurch, dass man einfach etwas anderes konsumiert. Das geht in 99 % der Fälle in die Hose. Sei es Hasch oder Essen.

Während der 4 Monate damals wurde seitens der Einrichtung auch bei den Mahlzeiten tatsächlich darauf geachtet, dass es nicht zu viel gab. Die Therapeuten wussten sehr genau, dass man anfängt, Schokolade und Chips einzuatmen. Daher gab es eine niedrig angesetzte Kalorienzufuhr, weil sowieso jeder nachmittags und Abends in die Cafeteria sauste und sich mit Naschkram eindeckte.
I ch hatte damals jeden Abend eine Tafel Ritter Sport Vollnuss weggeatmet. Und hab trotzdem abgenommen, weil das Sportprogramm für mich olle Sofakartoffel sehr toll war.

Es gibt vielerlei Süchte. Und Fresssucht betrachte ich nicht viel anders als Alkoholsucht. Es ist gefährlich für den Körper und man sieht es einem an. Allerdings nimmt das Hirn nicht so einen Schaden, wie es bei Alkohol nach langem, regelmäßigem Konsum leider vorkommt.

Der schöne Satz "Alles in Maßen" trifft für uns Alkis natürlich auch nicht mehr zu. "Alles bis auf sämtliche bewusstseinsverändernde Substanzen, und dann bitte auch hier maßhalten" trifft es schon eher.

Von daher: Tütchen rauchen is nich. Da stricke ich lieber noch 100 Paar Socken :D

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