Donnerstag, 10. September 2020
Fallstricke
Wir haben frühmorgens hier immer eine nette Runde, bestehend aus drei Menschen. Kaffee, Zigarette und den Tag allmählich beginnen, Tiere beobachten (die Eichhörnchen sind geradezu hektisch derzeit, während die Vögel sowas wie einen zweiten Frühling feiern.) und reden.
Heute kam die Rede auf den alltäglichen Umgang mit Gebrauchsmitteln. Nicht nur Essen und Trinken, auch diverse andere Sachen enthalten nämlich Alkohol.

Der übliche Griff zum Mundwasser kann da fiese Folgen haben. Viele enthalten nämlich eine nicht geringe Menge an Alkohol und wenn man damit fröhlich gurgelt und DANN pusten muss: auweia. Ok, im normalen Leben steht natürlich niemand morgens und abends und nach jedem Ausgang vor einem und hält das Kontrollgerät vor die Nase. Und trotzdem ist da oft ein blödes Gefühl. Obwohl man sich sehr sicher ist, nichts konsumiert zu haben, luschert man trotzdem auf die Anzeige und wartet auf das 0,0. Wie blöde.
Aber auch wie aufmerksam von einem selber. Viele sagen hier, dass sie sich überhaupt nicht mit ihrer Sucht beschäftigen. Sie denken nicht daran und damit ist die Sache erledigt.
Ich bin da anders. Weil ich weiß, wie aufmerksam man ab sofort - wieder- durchs Leben gehen muss. Wenn ich meine Sucht völlig ignoriere, habe ich mich damit nicht genügend auseinandergesetzt.

Und dann passiert es tatsächlich, dass man sich einen Becher Eis kauft und einem plötzlich ein wattiges Gefühl im Kopf hochsteigt. Und dann guckt man doch mal auf die Inhaltsstoffe und siehe da: das Zeug enthält Alkohol.
Eine völlig harmlose Eissorte wie Schoko-Banane. Na vielen Dank auch.

Siehe auch Kinder-Milchschnitte. Mittlerweile wurde es geändert, aber die erste Version enthielt reichlich Schnappes. Für KINDER. Soviel zum Umgang mit Alk seitens der Nahrungsindustrie ;-)

Man sollte jederzeit aufmerksam, aber nicht panisch sein. Persönlich habe ich z.B. überhaupt kein Problem damit, Fleischsalat oder ähnliches zu essen, wo Branntweinessig enthalten ist. Ich sortiere jetzt auch nicht hektisch alle Lotions und Cremes aus, wo Ethanol enthalten ist. Ich neige nicht dazu, meine Bodylotion auszuschlürfen oder mir Niveacreme aufs Brot zu schmieren *schudder* und da die gut riecht, aber nicht nach Alk: so what?

Bei mir unbekannten Sachen wie z.B. letztens ein Garnelensalat von Gosch war ich aber tatsächlich unsicher. Ich musste direkt nach dem Essen zum pusten und hatte für 1 Sekunde Panik. Damn, ich hatte nicht auf die Inhaltsstoffe geguckt. Was, wenn da Weißwein oder sowas enthalten war? Was lernt Frau S. daraus? :"Mädel, guck halt auf das Etikett!"
(Spoiler: war nix, alles fein)

Auch wenn man Essen geht, kann es daneben gehen. Eine Freundin, seit langem trocken, hatte erst vor wenigen Monaten die unschöne Erfahrung gemacht, dass in dem bestellten Essen reichlich Alkohol enthalten war und es war nicht deklariert. Leute: das geht nicht. Wirklich nicht. In den allermeisten Fällen wird man nicht sofort wieder rückfällig, aber das Gefühl eines leichten Räuschleins reicht leider oft schon aus, alle alten Trigger wieder in Hochstimmung zu versetzen und es bedarf einiges an Willenskraft, dem nicht nachzugeben. Zudem ist es schlicht und einfach Scheiße von dem betreffenden Koch, solche Speisen nicht klar zu definieren.

Womit ich persönlich keinerlei Probleme habe: wenn Rotwein in einem Schmorgericht ist und das ganze dann stundenlang vor sich hin köchelt. Da ist kein Alk mehr im Essen und ich werde absolut nicht getriggert. Ich selber koche zwar nicht so, aber kann es bei Einladungen problemlos und mit Genuss essen.
Kocht man allerdings ein Chili nur 15 Minuten und die Soße besteht zu 30 % aus Rotwein...(hiermit liebe Grüße an den Ex-Kollegen. Das war nicht lustig)

Fazit: uffpasse! Mit den Jahren kommt eine gewisse Gelassenheit, die aber wirklich nie in einen Schlendrian wechseln sollte. Und der kleine Fiesling ist wirklich nie ganz weg.

Oh, Frühstück! (darauf freue ich mich übrigens auch sehr: dann zu essen, wenn ich Hunger habe. Und nicht, weil es 8 Uhr ist...)

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Dienstag, 28. Juli 2020
Wieso meldest Du dich nicht bei Rückfall?
Weil man es nur sehr sehr schwer kann. Ganz einfach.

Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich Freunden und teilweise auch der Familie versprochen habe, mich zu melden falls ich wieder unruhig wurde oder sogar schon etwas getrunken hatte. Zahllose Male.

In den meisten Fällen konnte ich den Konsum bestens verstecken und es waren auch immer nur wenige Tage.

Während der ersten Corona-Welle ging das leicht, man durfte ja eh niemanden sehen und wenn ich mir 3 oder 4 Tage lang Alkohol "genehmigte", fiel das natürlich niemandem auf.

Nach dem missglückten Entgiftungsversuch in Wandsbek im April versprach ich wieder einigen Freundinnen, mich sofort zu melden im Fall der Fälle.

Aber wisst ihr, dass das, was man so leicht verspricht, für einen Alkoholiker fast zu 100 % nicht einzuhalten ist? Die Gedanken drehen sich nicht um Freunde, Familie etc. Man kümmert sich nicht um Versprechen oder Zusagen oder um das soziale Auffangbecken, was man eigentlich zu nüchternen Zeiten aufgebaut hat. Das ist alles egal. Das einzige, was einen noch kümmert: wo kriege ich Alkohol her.

DAS zählt. Alles andere ist vergessen, sobald man wieder so richtig im Teufelskreis drin ist. Und natürlich verschwindet man von der Bildfläche. Man ist nicht mehr aktiv in den sozialen Medien unterwegs und geht möglichst auch nicht mehr ans Telefon.
Lange vorher verabredete Treffen werden unter Vorwänden abgesagt. Arzttermine, auf die man monatelang warten musste: abgesagt. (Wäre ich zu meinem Orthopäden gegangen, würde ich jetzt nicht hier sitzen und selbst Nachts bewegungslos Schmerzen in dem sehr kaputten Knie haben...ich Quadrattrottel)

Man will nur weiter trinken. In meinen Fall aus purer Panik vor den physischen Entzugserscheinungen, die bei mir immer richtig fies sind.

Insgeheim weiß man natürlich, dass man sich melden sollte, oder zumindest eine Beratungsstelle aufsuchen. Krankenhäuser sagen auch immer und ständig "Kommen Sie jederzeit vorbei, das ist absolut kein Problem!" --- Was nicht stimmt. Wenn man nicht sagt, dass man sich umbringen will, geht da gar nichts. Außer man steht auf einer Warteliste, die wiederum von einem verlangt, dass man weitersäuft (um die Gefahr eines kalten Entzugs abzuwenden). Und dann soll man erstmal die Energie aufbringen, da auch wirklich täglich anzurufen. Hölle, ich habe es ja nicht mal geschafft, irgendwas zu essen, zu duschen oder zumindest mal den Müll wegzubringen.

Ja, das mag unwahrscheinlich klingen, dass man nicht die Energie/den Mut/etc. aufbringt, kurz mal im KH anzurufen. Aber so ist es nun mal.

Und so bringt man erst recht keine Energie auf, Freunde anzurufen. Die Angst vor Vorwürfen, Entsetzen und vielleicht sogar Ablehnung ist einfach viel zu groß.

Hat man es dann irgendwie doch in die Entgiftung geschafft und danach in eine Vorsorge/Therapie, dann kommen all die guten Vorsätze wieder hochgeploppt wie Popcorn. Und man schämt sich noch ein wenig mehr als eh schon, weil man das hübsche Sicherheitsnetz schon wieder nicht genutzt hat.

Selbst jetzt, nach 5 Wochen Trockenheit, bin ich mir meiner selbst noch nicht sicher. Absolut nicht.

Ich war gestern in Hamburg unterwegs und hatte mein Gummiband vergessen. Gottseidank war Freund M. mit und hatte mir eins geliehen. Uih, habe ich mit dem Ding herumgeschnippst, je näher wir der stressigen Großstadt kamen. Aber dann wurde es besser und Abends bin ich sehr entspannt wieder nach Hau...ähm...in die Einrichtung gefahren. Tsas, jetzt hätte ich fast "nach Hause" geschrieben. Das wird es hier nie sein, dafür fand ich meine Wohnung gestern viel zu toll :D

Aber es ist ein sicherer Platz. Der sicherste, wo ich mich derzeit aufhalten kann und definitiv derzeit mein Zuhause.

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Donnerstag, 23. Juli 2020
Die Sucht und der Neid
Tja, das ist mein größeres Problem: der Neid.

Ich kann die Sucht bekämpfen, das weiß ich und das habe ich auch viele Jahre bewiesen. Mir stehen diverse Skills zur Verfügung, ich habe hier alles an Ablenkung, die ich für mich persönlich genau jetzt wunderbar nutzen kann.

Was mich nach wie vor in stillen Stunden - oder manchmal auch wie ein Blitz trifft - ist der Neid.

Neid auf alle Mitmenschen, die sich Abends ein Glas Wein eingießen und in Ruhe genießen können. Auf alle, die sich mit Freunden auf ein Bier treffen. Auf endlose Abende in Cocktailbars. Auf Picknicks mit tollen Leckereien und einer Flasche eiskaltem Weißwein.

Ich versuche gerade herauszufinden, wieso ich da so derbe neidisch drauf bin. Ich weiß ja durchaus, dass ich gar keinen Alkohol brauche, um entspannende, lustige oder aufregende Stunden zu erleben.

Wieso also? Manchmal fühle ich mich wie ein Kleinkind, dass aber NUN, JETZT UND SOFORT SONST SCHREI ICH mittrinken will. Sich nicht betrinken, einfach auch mal ein Glas haben will. Und das geht nicht. Nie wieder.

In den letzten Jahren habe ich des öfteren mal alkoholfreies Bier oder Sekt/Wein getrunken. Freunde haben z.B. fast immer dergleichen im Haus, wenn ich zu Besuch komme. Was ich ihnen hoch anrechne und absolut zauberhaft finde.

Aber irgendwie schwant mir, dass ich besser auch die alkoholfreien Varianten ganz vermeiden sollte.

Mittlerweile gibt es ja auch Gin ohne Umdrehungen, aber wieso sollte ich denn Wacholderschnaps trinken, wenn es eigentlich nicht so wirklich lecker ist, aber man so tut, als ob? :D

Und halten wir fest: auch der beste alkoholfreie Wein (und Dank Freund H. habe ich wirklich gute getrunken) erreicht nie die Güte eines fantastischen Rieslings. Bei Sekt ist es das gleiche. Der rosa Rotkäppchen, Leib- und Magenbrause aller Schwangeren *g*, schmeckt ganz gut, macht aber gemeinerweise durch den Schwefelgehalt einen Mordsschädel nächsten Tag. Bei mir jedenfalls. Und einen Kater zu haben, aber nicht mal angeschickert zu sein ist nun wirklich die dööfste aller Möglichkeiten.

Das einzige, was ich wahrscheinlich weiter trinken werde, ist alkfreies Weizen. Besonders im Sommer mag ich es sehr gerne, besonders mit einem Schuß Zitronensaft/-limo. (Und es komme mir jetzt bitte niemand mit Bananensaft! Affensperma mag ich nicht)

Auch sehr cool und saulecker: Erdbeeren pürieren und mit Ginger Ale auffüllen. Geht mit gefrorenen Beeren besonders gut. Virgin Colada: auch toll!

Hm, tja. Ich merke gerade, dass es immer mehr alkoholfreie Alternativen gibt, weil es tatsächlich mittlerweile sogar "en vogue" ist, mal nichts zu trinken.

Also wieso bin ich dann immer wieder neidisch auf Euch, die ihr in keinster Weise suchtgefährdet seid?

Bin ich so doof (Nein, ich denke nicht)? Vermisse ich den Rausch (ja, manchmal)? Ist es das kindliche "Ich will, was alle haben!"?

Ich werde darüber noch eine Zeit nachdenken.

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Sonntag, 19. Juli 2020
Trinkernation Deutschland
Jo, isso.

Ich habe kürzlich einen informativen Kurzfilm gesehen, der sich mit dem Thema Alkohol in der Gesellschaft beschäftigt. Es ist ja nun nichts Neues, dass in Deutschland das Trinken als gesellschaftlich anerkannt gilt. Man steht eher als Paria da, wenn man nichts trinkt.

Das ist in vielen Ländern anders.

Zum einen sind da die muslimischen Länder. Viele Menschen dort lehnen aus religiösen Gründen Alkohol ab. Trinkt einer jedoch regelmäßig und zuviel, fällt das sofort auf. Man ist dort achtsamer und als Trinker wird man relativ schnell erkannt. Aus dem Grunde gibt es in diesen Ländern nur wenig Alkoholkranke.

Dann sind da die Mittelmeerländer. Alkohol gehört dort zwar zum Leben, aber immer und grundsätzlich in Maßen. Der Rotwein zum Lunch oder Dinner ist absolut normal und willkommen. Der Rausch hingegen nicht. Im Film hieß es, wenn ein junger Mann sich regelmäßig einen antüdert und eindeutig betrunken umherwankt, fällt er sofort auf. Man trinkt dort einfach nicht so wie wir hier. Menschen, die Alkoholmissbrauch betreiben, sind auffällig. Und auch nicht gerne gesehen. Aus diesem Grund gibt es in diesen Ländern zwar durchaus Alkoholkranke, aber bei weitem nicht so viele wie in:

Deutschland, USA und Russland.

In dieser Gruppe gehört Deutschland zu den Großmächten. Hier wird man als junger Mensch nicht schief angeguckt, wenn man betrunken ist. Es wird gescherzt, sich auf den Oberschenkel gehauen und die nächste Runde ausgegeben. "Der Junge kann was vertragen, super!"
Die junge Frau übrigens auch. Ich war früher stolz drauf, so einige Kerle unter den Tisch saufen zu können. Und da war ich bei weitem noch nicht abhängig.

Alkohol ist immer und überall verfügbar, billig und anerkannt. "Genussmittel", wie es so schön heißt. Alleine die Tatsache, dass ein Nervengift als "Genussmittel" bezeichnet wird, sagt so einiges über unsere Einstellung zu Alkohol aus.

Und versteht mich bitte nicht falsch: ich habe nichts gegen Menschen, die Alkohol zu sich nehmen. Absolut nicht. Aber so dermaßen viele, die ich kenne, sind schon weit über den "Genuss" hinaus.

Kinners, es ist nicht "normal", jeden Abend zu trinken. Egal, wieviel. Es ist auch nicht wirklich gut, dezent unruhig zu werden, wenn man mal keinen Alkohol im Haus hat. Die Ausrede "Aber wir trinken das nur, weil es so gut schmeckt!" mag gelten, wenn es ein Glas oder zwei am Wochenende sind. Aber nicht 2 Flaschen jeden Abend. Ganz bestimmt nicht.

Ich kenne natürlich auch Leute, die wirkliche Genusstrinker sind, sich mit der Herstellung und Geschichte von Bier oder Whisky lange beschäftigt haben, auch eine dementsprechende Sammlung besitzen und teilweise sogar selber brauen. Aber die nutzen Alkohol nicht missbräuchlich.

Dazu kommt die blöde Tatsache, dass wir Alkis die besten Schauspieler der Welt sind. Es gibt eine riesige Dunkelziffer von Menschen, die funktionierende Alkoholiker sind. Ich gehörte auch dazu. Tagsüber wird nicht getrunken. Nur Abends. Dann aber so schnell und so viel, das man sich relativ schnell wegschießt, mehr oder weniger besinnungslos ins Bett (oder auf den Teppich) fällt und morgens wieder zur Arbeit geht. Und keiner merkt etwas. Oder wagt es, etwas zu sagen.

Ich hatte das tatsächlich zwei Jahre so gehandhabt, bis der Wodka eindeutig auf der Gewinnerseite war.

Aus diesen Gründen gibt es bei uns so viele Alkoholiker. Die Alkohollobby der Winzer und Brauer ist mächtig. Gestern verglich es einer meiner Kollegen hier mit der Waffenlobby in den USA. Was ich ziemlich passend finde.

Nehmt dem Deutschen sein Feierabendbier und die BLÖD rastet aus. Versucht mal, 6 Wochen ohne. Höchstes Lob und großer Respekt ist demjenigen sicher, der es schafft.

Leute, ernsthaft? 6 Wochen ohne Alkohol und man ist ein Held?

Nein.

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Freitag, 17. Juli 2020
Wieso eigentlich dieser Titel "Ich kann das alleine!" ?
Ja, das ist etwas irreführend, ich weiß :)

Aber dieser Satz war so ziemlich der erste vollständige Satz, den ich als Kleinkind gesagt hatte. Und der wurde dann irgendwie zu einem relativ blödsinnigen Lebensmotto.

Ich war ca. 4 und bei Oma G., wahrscheinlich über's Wochenende. Sie machte Bandnudeln und ich wollte/sollte helfen. Der fertige Teig sollte in Streifen geschnitten werden und ich: "Das kann ich alleine!" Also Streifen waren es augenscheinlich nicht, was ich da fabrizierte. Opa K. guckte sehr skeptisch, als das Gericht auf den Tisch kam. Aber: ich hatte Essen fabriziert, ha!

Und so blieb es bei. Lesen lernen z.B. Ich war in der Vorschule und erkrankte an einer ziemlich schlimmen Lungenentzündung. Als ich aus dem gröbsten raus war, war mir langweilig, also brachte ich mir das Lesen eben selber bei. Die erste und 2. Klasse waren dann entsprechend langweilig. *g*

Später gaben sich meine Alleingänge, ich war meist gutes Mittelmaß am Gym und wurschtelte mich so durch die Schuljahre. Das einzige, was mich wirklich interessierte, waren Theater, Musik und Kunst. Blöd, dass das Gym den Schwerpunkt auf Naturwissenschaften gelegt hatte. Nach einer Ehrenrunde in der 11. hab ich dann Abi gemacht und bin sofort in die Lehre gegangen.

Da begann mein "ich kämpfe mich da alleine durch" wieder. Die Lehre war schlicht und einfach Ausbeutung. Wir schliefen in rumpeligen Zimmern unterm Dach, ein Bad für bis zu 12 Angestellte, die Bettdecken waren dicke fette Federplumeaus von Anno 1950 (hab ich mich geekelt), Heizung gab es nicht. Das Essen für die Angestellten war der Müll aus den Kühlräumen. Und dann Teildienst, also morgens von 6 bis 14 und dann von 17 bis Küchenschluss. Von März bis Oktober. Dann wurde der Laden dicht gemacht und wir hatten nichts zu tun.

Als Lehre konnte man das im Grunde genommen nicht bezeichnen. Aber hab ich vielleicht mal etwas gesagt? Die Missstände angesprochen? Aber nein, bloß nicht!
Die beste Freundin einer meiner Tanten regelte den Laden bzgl. Rezeption etc. und da muss man ja dankbar sein und darf sich auf gar keinen Fall beschweren.

Heute wäre es anders, aber ich habe wirklich alles geschluckt und gekuscht und mit 40° Fieber weiter gearbeitet. Beleidigt worden, zusammengeschissen und dann auch noch gefeuert, weil ich es zum Ende der Lehre gewagt hatte, mit den Kollegen über Gehälter zu sprechen. Die Chefin rief meinen Vater an und faselte was von "zahlreichen Abmahnungen, daher sei die Kündigung unumgänglich". Bullshit. Es gab nie eine Abmahnung. Dafür halt hysterisches "Du machst uns Schande!!!"-Gebrüll seitens der Eltern.

Ich hatte sofort einen neuen Job (es war Hochsaison in Büsum, das war einfach), schloss die Lehre als Beste der Westküste ab (ganz nach dem Motto: Euch werde ich es zeigen!) und haute ab nach Hamburg. Da lebe ich jetzt seit 1991.

Und diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich wirklich niemandem mehr traute außer mir selber. Auch bei Dingen, die ich mal besser eher an- bzw. ausgesprochen hätte.

Ich brauche keine Hilfe. Ich kann das alleine. Mir hilft ja eh keiner, baue ich Scheiße, komme ich auch alleine wieder raus.

Wie DUMM!

Ganz besonders bei Suchterkrankungen kommt man eben nicht alleine wieder raus. Man muss den ersten Schritt zur Selbsterkenntnis alleine machen. Da kann egal wer noch so eifrig auf einen einreden: will man nicht aufhören, hört man nicht auf. Unter Zwang und Druck geht das nicht. Bzw. ja, klar geht es. Aber sobald man wieder aus der Langzeittherapie, Vorsorge etc. raus ist, geht der erste Weg zum Kiosk.

Es gibt so einige Läden hier, die nur "Rückfallkiosk" genannt werden. Und ich kenne wirklich mehr als genug Menschen, die 16 Wochen oder länger in Therapien wieder aufgeblüht sind und genau einen Tag nach der Entlassung betrunken irgendwo herumlagen.

Es ist furchtbar und das ist mir tatsächlich noch nie passiert. Aber gerade dieser letzte kurze, aber heftige Rückfall hat mir gezeigt: Ich kann es ab einem gewissen Zeitpunkt eben nicht alleine.

Alle ebenfalls Kranken, die hier vielleicht mitlesen: es gibt Hilfe. Macht es nicht so völlig bescheuert wie ich und entzieht zu Hause, alleine. Kalter Entzug kann tödlich enden. Will ein Krankenhaus euch nicht aufnehmen, fahrt zum nächsten.
Zur Not sagt, ihr hättet suizidale Gedanken. Das führt zwar stracks in die Geschlossene, aber nach 24 Stunden ist man wieder raus und auf der korrekten Station.

Und dann sucht euch eine SHG (hatte ich versucht, wird später nochmal Thema), geht zu Beratungsstellen, holt euch Hilfe.

Und hört zu. Versucht, es anzunehmen. Man kann es nicht alleine schaffen. Bzw. ist das nur ein verschwindend geringer Anteil derer, die es ganz alleine schaffen und auch trocken bleiben.

Ich habe erkannt, dass ich definitiv nicht zu dieser Gruppe gehöre. Auch wenn ich das natürlich wollte. Ich, hallöle, die einsame Wölfin (hier Wolfsgeheul vorstellen).

Nope. Es hat gedauert, aber ich habe endlich akzeptiert, dass ich es alleine nicht kann.

Und darum dieser höchst ironische Name des Blogs ;-)

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Mittwoch, 15. Juli 2020
Wieso der Rückfall?
Tja. Alles begann im Dezember mit meinem verwitweten Vater. Er kam seit dem Tod von Mum vor 2 Jahren nicht mehr zurecht. Die ersten Monate ging es noch, aber allmählich ließ er sich gehen.

Mein Bruder, seine Frau und ich haben alles versucht, aber wir leben alle 100 Km entfernt von ihm, und hatten Vollzeitjobs. Ich habe auch kein Auto, bin aber trotzdem so oft wie irgend möglich hochgefahren (Dithmarschen).

Im Dezember ging es los mit nächtlichen Anrufen beim Bruder (Joah, wir müssen nach Italien! Fußball WM! Sag mal deiner Schwester Bescheid!), die meinen Bruder völlig verwirrt und auch sehr besorgt werden ließen. Papa kam dann ins Krankenhaus, weil nette Nachbarn sich Sorgen machten. Das ging noch bis Februar so hin und her, er baute zusehends ab, verweigerte Essen und Medikamente, bis wir uns einigten, die Behandlung zu stoppen und ihn gehen zu lassen.
Er versicherte uns noch, dass wir uns keine Sorgen machen müssten. Alles wäre geregelt.

Nach seinem Tod krachte dann alles zusammen. Er war hoch verschuldet, das gemietete Haus teilweise völlig verwahrlost (er hatte uns verboten, in dieses eine Zimmer zu gehen und blöderweise hatten wir gehorcht bzw. es akzeptiert) und es war gar nichts geregelt.

Bei seiner Beerdigung habe ich nicht geweint, obwohl ich immer ein Papakind gewesen bin. Da muss ich noch einiges aufarbeiten.

Zeitgleich hatte ich im Dezember einen neuen Job begonnen, nachdem viele Kollegen aus der alten Firma von der neuen Firma gekündigt worden waren. Ich leider auch, aber immerhin gab es eine feine Abfindung (deswegen habe ich auch keinen Anspruch auf Hartz 4).

Dezent panisch, weil ich da schon 51 war, suchte ich mir nahtlos etwas neues. Und fand eine Position als telefonische Serviceberaterin beim ...tadaaaa...Jobcenter.

Und bekam einen "Paten" an die Seite gesetzt, mit dem ich absolut nicht klar kam. Also so gar nicht. Null. Nada. Ich bin ehrgeizig und stürze mich immer mit Aplomb auf neue Dinge. Auch im Job. Aber dieser Kerl hat es fertig gebracht, dass ich mir nach kürzester Zeit überhaupt nichts mehr zutraute. Das Team an sich war super, nur eben dieser eine Dödel...Seufz.

Und ich fing an, mich nach Entspannung zu sehnen. Da dort keiner von meiner Krankheit wusste, fing ich abends wieder an, mir eine Flasche Wein zu holen. Die hielt auch zu Beginn für 2 Abende vor. Dann nur noch ein Abend. Dann holte ich mir einen Flachmann mit Weinbrand (igitt...). Irgendwie dachte ich, egal was, Hauptsache keinen Wodka.

Mitte März schmiss ich hin und ließ mich krankschreiben.

Voller Erleichterung, nie wieder diesen Vollhonk sehen zu müssen und nie wieder verunsicherten Menschen irre lange Bescheide erklären zu müssen, stürzte ich mich in ein wahres Lotterleben. Geld hatte ich ja genug.

Dann kam Corona, der Baby-Lockdown (ja, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern war es die Babyversion) und ich fing richtig an, mich wegzuballern.
Merkt ja eh keiner, wir dürfen uns eh nicht treffen, lalala, her mit dem Wodka.

Im April war mir klar, dass ich keineswegs damit gut fuhr, sondern ich wollte sofort aufhören. Dann passierte der Mist mit dem AK Wandsbek, wo sie mich wegschickten mit dem lapidaren Hinweis "Trinken Sie einfach weiter!"

Und dann kam am Mittsommertag göttinseidank meine Freundin und rettete mich. Püha.

Und jetzt kämpfe ich tapfer weiter mit der unfassbar unfreundlichen Krankenkasse. Meine Therapeutin hatte gerade bei denen angerufen und war auch sehr erstaunt über die geballte Unfreundlichkeit.

Aber gemeinsam werden wir das schaffen. Und jetzt habe ich gleich Gruppentreffen und heute nachmittag darf ich eeeendlich mit zum Heidespaziergang. Ich freue mich total :)

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Montag, 13. Juli 2020
Trinken ist einfach eine Charakterschwäche
Ist das so?

Ist es nicht.

Leider gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Mitmenschen, die nicht verstehen wollen oder können, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Damit wird man nicht geboren (obwohl doch, das kommt tragischerweise vor, wenn die Schwangere trinkt), man "erschafft" die Krankheit.

Und diese Krankheit hat den dämlichen Effekt, dass sie bleibt. Immer. Bis zum Tod. Durch missbräuchlichen Alkoholgenuss beginnt die Leber nämlich, MEOS zu bilden. Achtung, es folgt ein kleiner Exkurs in die Medizin:

Bei chronischem Alkoholkonsum beginnt die Leber, diese tapfere, fleissige Müllhalde unseres Körpers, einen eigenen Weg zu finden, mit dem Alk umzugehen. Sie bildet ein mikrosomales Ethanol-oxidierendes System (MEOS) und passt sich dadurch an den Konsum an. Die Leber erschafft eigene Enzyme zum Abbau des Alkohols. Und diese Enzyme bleiben dann. MEOS ist dafür verantwortlich, dass der Alkoholabbau immer schneller erfolgt. Man braucht immer mehr, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.
Was dummerweise dazu führt, dass man nach langen oder längeren Trockenphasen (und ich meine Jahre oder Jahrzehnte) rasend schnell wieder bei der gleichen Menge an Alkohol ist wie zu dem Zeitpunkt, als man aufhörte. Dieses MEOS bleibt. Jaja, die Geister, die ich rief.

Und dann ist da auch noch das Suchtgedächtnis. Das Teil merkt es sich auch und will sofort und jetzt bitte gleich ähnliche Litermengen an Alkohol wie zu Beginn der Trockenphase. Und vergisst auch nicht. Nie mehr. Es hockt in deinem Gehirn und wispert verführerische Sätze wie: "Na, Scheißtag gehabt? Trink einfach ein Glas Wein. Machen alle anderen ja auch. Passiert schon nichts. Na los!"
Und Zack, rödelt das MEOS los und die ganze Scheiße beginnt von vorne.

Das hat also alles nun wirklich überhaupt nichts mit "Charakterschwäche" zu tun. Ich habe auch Freunde, die einfach nicht verstehen, wieso ich wieder angefangen habe zu trinken. Ich bin ihnen nicht böse und kann nachvollziehen, wieso ich ein anstrengendes Miststück gewesen bin.
Aber versucht, es zu verstehen. Bitte.

Alkoholismus ist eine lebensgefährliche Krankheit, aber auch eine der wenigen Krankheiten, die man selber in der Hand hat. Und das ist schwer. Sauschwer.

Überall ist Alkohol. In der Werbung, auf Partys, bei Konzerten, Vernissagen, Supermärkten, bei Treffen mit Freunden, an der Tankstelle, auf der Grillwiese, beim Minigolf...ja, wo eigentlich nicht? Und billig ist der Scheiß auch noch. Das muss man erstmal täglich aushalten, diese Nonstop-Konfrontation. Und solange man nicht sehr gefestigt ist, wird es immer wieder passieren.

Ich weiß, dass ich es trocken schaffen kann. Aber derzeit bin ich heilfroh, hier oben auf dem "Berg" in Sicherheit zu sein.

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Samstag, 11. Juli 2020
Wann wurde das Trinken gefährlich?
Tja, hm. Gute Frage.
2012 kam jedenfalls die Erkenntnis. Allerdings nicht von alleine. Ich fuhr mit fiesen Bauchschmerzen und tagelangem Blutspucken dann doch mal ins Krankenhaus. In der ZNA fragte mich eine Pflegerin, wann ich das letzte Mal Alkohol getrunken hätte. Meine Antwort: "Och, so vor 3 Wochen, ein Glas Wein."
Ihre Augenbrauen schossen gen Haaransatz. "Ahja. Sicher??"
Nachmittags standen dann drei sehr ernst blickende Ärzte um mein Bett herum: "Frau S., sie haben eine böse entzündete Bauchspeicheldrüse, der Magen ist kaputt und sie haben ein wirklich ernsthaftes Alkoholproblem. Ist Ihnen das nicht klar?"
Und in dem Moment ließ ich endlich zu, was ich schon längere Zeit natürlich wusste, aber einfach nicht wahrhaben wollte. Ja. Ich bin Alkoholikerin. Ein kleines Mittelgebirge plumpste von meinen Schultern.
Und das, meine Damen und Herren, ist immer der erste Schritt. Vielleicht der wichtigste, um überhaupt wieder gesund zu werden.
Einsicht in die Sucht.

Bloß: wieso? In den Therapien und Gesprächsrunden habe ich so schlimme Schicksale gehört, dass es mich bei den Menschen wenig wunderte dass die trinken.
Aber ich?

Ich fing erst spät mit Alkohol an (wie mit allem anderen auch). Auf den Festivals habe ich zwar immer getrunken, aber ich gehörte nie zu der Fraktion "Sitzt verdreckt in einem der Gräben in Wacken und weint und weiß nicht mehr, wo das Zelt ist".

Aber so ca. 2010 wurde es mehr. Und zwar ausschließlich zuhause. Alleine. Erst Wein. Nach einigen Monaten dachte ich mir, das ich immer mehr Wein brauche, um mich wohl zu fühlen. Also Wodka. Geht ja mit viel weniger schneller.

Die Rechnung ging natürlich nicht auf, irgendwann brauchte ich eine Flasche täglich. Die Erinnerung daran ist verschwommen (ach, echt?). Ich ging zwar noch arbeiten, aber die Krankmeldungen häuften sich. Besorgte Kollegen fragten, ob alles ok sei. Ich laberte irgendwas von "Magen-Darm". Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob nicht doch einer eine Vermutung hatte. Angeblich hätte keiner es bemerkt. Allerdings sind Alkoholiker supergute Schauspieler, wenn sie wollen.

Nachdem ich es also endlich mir selbst gegenüber zugegeben hatte, sagte ich es meinen Eltern. Die selber täglich tranken. Zwar nur Abends (früher auch schon vormittags), aber dafür reichlich.
Verständnis: Null. Einsicht: noch mehr null (Frau Mutter: Achwas, dann trinkst Du eben mal drei Wochen nix und dann geht es wieder. Nein, Mama. So geht das aber eher nicht!)

Den ganzen Sommer 2012 hoppste ich von trocken zu nass zu trocken zu nass. Immer noch am überlegen, wie zur Hölle das passieren konnte. Meine Familie drängte mich zu einer Langzeittherapie. Nicht wissend, dass so eine Entscheidung ausschließlich von dem Süchtigen alleine getroffen werden kann. Nur so kann eine LZT Erfolg bringen. Unter Druck geht es nicht. Niemals.

Im Oktober hatte ich von allem die Schnauze voll. Gestrichen voll. Ich war gerade trocken zu dem Zeitpunkt, also dachte ich in meiner Verzweiflung, dass 2 Flaschen Wodka das Elend beenden könnten.

Kurzfassung: 5,5 Promille, Feuerwehr, Notarzt, Polizei. Das ganze große Tatütata. Ich weiß davon nichts mehr, das haben mir Nachbarn später erzählt. Und ich habe den Irrsinn nur überlebt, weil Kollegen anriefen, ich glücklicherweise ans Telefon gegangen bin und dann wahrscheinlich "Hilfe!" gelallt hatte. Wie gesagt: das ist alles weg.
Nach 1 Monat in der Psychiatrie habe ich mich aus freien Stücken für eine LZT entschieden. Das dauerte dann leider noch über 2 Monate, bis endlich ein Platz frei war. Natürlich bin ich wieder rückfällig geworden. Aber ich habe es geschafft, mich bis zum 17.12.12 auf 0,0 runterzutrinken und bin dann frühmorgens in den Hansenbarg getaddert.

Aber wieso und warum ich so dermaßen abhängig werden konnte, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht finde ich es ja hier in Bullerbü raus.

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Freitag, 10. Juli 2020
Tag 4 in Bullerbü
Es regnet unentwegt, die Laune der meisten Mitpatienten sickert gen Waldboden. Ich sitze morgens um 6:00 Uhr alleine im Rauchhäuschen, lausche dem sanften Regen, höre den Vögeln zu und finde alles herrlich. Wenn das so weitergeht mit meiner Entspannung, kann ich die doofen Blutdrucksenker bald absetzen.

Die Menschen hier sind natürlich alle krank, wir sind fast alle Alkoholiker. Sehr viele sind zum wiederholten Mal in Therapie bzw. Vorsorge, weil sie den Kampf immer wieder verlieren.

Bei mir ist es jetzt "erst" das zweite Mal. Und ich merke immer deutlicher, dass diese Entscheidung absolut richtig war. Meine Bezugstherapeutin ist eine sehr coole Frau, die anpackt und hilft, wenn es Probleme gibt mit Ämtern, Behörden, Krankenkassen (Hallo, Krankenkasse! Fühl Dich mal angestupst!).
Die Gelassenheit, die ich in den ersten Jahren nach der Langzeittherapie im Hansenbarg hatte, kehrt allmählich zurück. Wenn Mitpatienten sich über Nickeligkeiten aufregen ("Iiiih, Reis! So 'ne Scheiße!" "Bäh, nur 3 Sorten Aufschnitt!" "Scheißregen!") lächel ich milde wie ein kleiner dicker Buddha und denke mit Den Ärzten "Lasse reden".
Man kann es nun mal nicht ändern und es ist auch nicht wichtig. Das einzig wirklich wichtige hier: Achtsamkeit gegenüber sich selber. Man muss einen gesunden Egoismus entwickeln, um erst an sich und dann an alle anderen zu denken.

Das hatte ich leider mal wieder vergessen bzw. verdrängt. Aber deswegen bin ich ja in erster Linie hier: um meine verdrängten Skills und Fähigkeiten wieder aus dem Unterbewusstsein abzurufen und mit deren Hilfe trocken zu bleiben.

Was übrigens erstaunlich gut hilft und ganz einfach ist: ein Gummiband um's Handgelenk. Immer wenn der kleine Fiesling sich meldet (und der Arsch ist recht aktiv, nach wie vor), nimmt man das Gummiband und lässt es mit Schmackes gegen das Handgelenk schnippsen. Das tut sauweh, weckt einen aber auf. Halt, Moment! Lass den Fiesling nicht wichtig werden. Gib ihm einen Arschtritt und sage ihm, er soll seine Schnauze halten.

Funktioniert prächtig. Sobald ich hier vom Gelände runter darf und mal in's "Dörfli" runterlaufen kann (wir sitzen hier auf so einer Art Berg. Ok, für Süddeutsche ist es kein Berg, für mich Nordseekrabbe aber durchaus) werde ich immer Gummibänder dabei haben.

Ich hab auch so ein Knetmännchen und eine fies stinkende Masse mit Knisterperlen drin, die neongrün ist und eine Konsistenz hat wie...ähm...fester Stuhl. Es ist absolut eklig, damit herumzumatschen. Aber wie sagte meine Bezugspflegerin in der Psychiatrie?: "Frau S., das SOLL eklig sein!" Aber wenn ich das Zeug in einem Bus oder der Bahn auspacke, werde ich das Abteil für mich alleine haben. Nunja, in Coronazeiten vielleicht gar nicht so doof :D

In 20 Minuten soll ich in die Ergo kommen, danach wird ein Suchtfilm geguckt, dann Mittag, dann wieder Ergo (wir stellen gerade sehr hübsche Kunstmappen her mit so einer Kleister-Öl-Technik), dann gibt es noch eine Einweisung für den "Fitnessraum". Ok, es ist wirklich ein Fitnessraum, aber tief im dumpfen, fensterlosen Keller. Ich möchte dort nicht so gerne hin. Keller. Brrr...

Und dann ist Wochenende. Und das Wetter wird wieder besser. Habe ich so beschlossen, so!

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Donnerstag, 9. Juli 2020
Das Jetzt
Ich bin Alkoholikerin. Seit 10 Jahren. 8 Jahre war ich trocken, dann kam einiges zusammen und jetzt bin ich in einer Vorsorgeeinrichtung am nördlichen Rand der Lüneburger Heide, um meine zerbröselten Seele und Körper wieder zusammen zu basteln.

Und ich bin glücklich.

Dieser ganze krumme Weg und das Warum und Wieso und Hä? möchte ich hier aufarbeiten. Einmal für mich, und dann vielleicht auch für andere Betroffene. Seien es Alkoholiker oder Angehörige. Ich weiß, dass man es schaffen kann. Ich weiß aber auch, wie gefährlich nahe am Abgrund wir die gesamte restliche Lebenszeit herumtanzen.
Vielleicht hilft mein Schreiben anderen. In erster Linie wird es aber mir helfen.

Es ist Mittwoch. Seit gestern bin ich aus dem AK Wandsbek raus. Dieses Krankenhaus ist so ungefähr das letzte, wo ich hinwollte. Die hatten mich im April, als ich zum ersten Mal um Aufnahme bat, einfach 8 Stunden herumliegen lassen (und so ein Entzug ist fies, eklig und gefährlich), bis ich “nur” noch 1,9 Promille hatte und haben mich dann auf die Straße gesetzt. Ich möge doch bitte den Bus nach Hause nehmen. Möchte ich mich umbringen, fragten sie. Ich verneinte vehement. Tja, da ist die Tür. Auf mein verzweifeltes Flehen, dass ich aber nicht wisse, wie ich das hinkriegen soll, kam ein lapidares “Weitertrinken”.

Als ich endlich (per Krankentransport, das hatte eine stinkwütende Freundin via Telefon organisiert) zu Hause war, war ich trotz Entzugserscheinungen so unglaublich sauer, dass ich einfach selber entzogen habe. Ohne Medikamente, ohne alles. Das ist lebensgefährlich, aber die Wut hielt mich aufrecht. Nach 4 Tagen ging es besser, ich konnte wieder etwas essen ohne dass es oben und unten sofort wieder rauskam. Dann blieb ich trocken. Für ca. 3 Wochen. Und der “kleine Fiesling” im Kopf, das elende, verdammte Suchtgedächtnis, wurde wieder lauter. Und gewann. Sämtliche Skills, antrainierte Fähigkeiten und Methoden um dem Suchtdruck zu widerstehen, versagten. ICH versagte. Och….einen kann ich ja. Passiert ja nix. Ich hab das absolut im Griff. Ja klar, am Arsch!

Eine sehr liebe Freundin fing an, sich Sorgen zu machen. Ich verschwand mal wieder von der Bildfläche. Am Mittsommertag sagte sie, sie komme vorbei, koche mir ein paar Nudeln und dann sehen wir mal.

Als sie mich dann sah (und man sieht wirklich schlimm aus nach einigen Wochen stramm durchsaufen), fing sie sofort an, eine Tasche zu packen und die 112 anzurufen. Wir einigten uns, dass ich suizidale Absichten hätte. Einfach aus dem Grund, dass ich nicht schon wieder rausgeschmissen werden wollte.

Vom Rest des Tages weiß ich nicht mehr viel. Wir fuhren nach Eilbek, dort wurde ich in einen schwarzen Van gesetzt, mit drei Zivilbullen oder was auch immer das waren. Ich saß hinten links, keine Tür an meiner Seite. WTF??? Ich kam mir vor wie bei S.H.I.E.L.D. Gleich kommt der Hulk und zermatscht das Auto oder wie? Wir fuhren nach Wandsbek und Zack, war ich in der Geschlossenen Psychiatrie. Ich hatte das schon erwartet, aber … PUH! Eine Nacht und den halben Montag schnatterte ich vor mich hin. Ich habe selten wirklich Angst, aber die Geschlossene hat mich traumatisiert. In einer Weise, dass ich das nie, nie vergessen will, um da bitte nie nie wieder rein zu müssen. Die Menschen dort sind krank, aber hey, ich bin da auch nicht weil ich mal Urlaub machen wollte…

Irgendwann schoß der Oberarzt auf mich zu und meinte “Ha, Frau S.! Wir haben ein Zimmer oben frei, sie kommen sofort hier raus. Wollen Sie sich immer noch umbringen?” Nein. Alles ok. War wohl ne Schnapsidee (höhö), sorry nochmal.

Die nächsten 2 Wochen entgiftete ich also, nach 5 Tagen wurden die Oxazepam abgesetzt und ich begann, wieder wie ein halbwegs normaler Mensch zu denken. Lesen ging wieder (ich habe “Drachenläufer” im Buchregal da gefunden und unter Tränen verschlungen), Essen ging wieder. Kein Suchtdruck.

Einige Tage später erzählte mir eine Mitpatientin von dieser Einrichtung hier. Einzelzimmer (Uih!!), mitten im Wald am Rand der Lüneburger Heide. Dort angerufen und auf die Warteliste setzen lassen. Am Freitag den Antrag auf Kostenübernahme gestellt. Drei Stunden später schoß eine der Pflegerinnen auf mich zu und wedelte mit einem Fax. Die Kostenübernahme war durch. Dreissig Minuten später klingelte mein Telefon und die nette Verwaltung der Einrichtung war dran: “Frau S? Wir holen sie Dienstag ab!”

Ich bekam kurz Schnappatmung, weil ich eigentlich noch Wäsche waschen, Wohnung aufräumen und wieder halbwegs begehbar machen wollte, Rechnungen noch zu zahlen hatte und einen Nachsendeantrag brauchte und Klamotten packen, wohin mit meinen Balkonblümchen, ich brauche mehr Wolle, aaaaaaargh!

Klappte aber alles, was natürlich beweist, dass man ohne Schnaps im Gehirn eindeutig besser denken und planen kann.

Tja, und jetzt sitze ich in diesem Bullerbü im Wald. Das Essen ist super. Die Umgebung traumhaft schön. Hinter dem Wald beginnt gleich die Heide (wo ich noch nicht hindarf, die erste Woche bleibt man auf dem Gelände), die bald blühen wird. Mein Zimmer ist groß und komfortabel. Man kann täglich in der Ergo arbeiten, egal was. Es gibt ein Maleratelier, eine Holzwerkstatt, noch zwei Kunsträume, Fitnessraum, Yogahöhle, Gewächshaus voller Unmengen an Gemüse, Fahrräder für umsonst, wir werden zum Schwimmen gefahren und, und, und.

Ich werde hier wieder gesund, gefestigt und glücklich in drei Monaten rausmarschieren.

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