Mittwoch, 5. August 2020
Spätfolgen und kleine Schritte
Tachschön! Juchu, wir werden noch einige heiße Tage bekommen, bevor der Herbst anklopft. Freund T. schaudert es bereits, er hasst Sommer. Ich liebe es. Und da ich hier "oben aufm Berg" weder U-Bahnen noch verschwitzte Menschenmassen, weder Staus noch Gedrängel habe, habe ich natürlich leicht reden. :)

Hier ist Wald, ist es relativ angenehm unter den Bäumen. Ich werde mir in den freien Stunden eine Decke schnappen und mich unter die alte Eiche platzieren, Buch und Getränk in Griffweite. Ok, hier sind eklig viele Zecken, aber das wird schon schiefgehen.

Samstag ist ein Grillabend geplant und ich sehe zu, dass ich Scampis organisiere. Aber ich freue mich tierisch drauf, obwohl grillen ja nun für normale Leute nix Besonderes ist. Für mich aber schon.

Heute ganz früh kam ein Reh vorbei und hatte uns in dem Glaskasten (Raucherpoint) nicht bemerkt. Hübsches, junges Tier, es äste friedlich vor sich hin und mümmelte an den Blümchen und Gräsern. Bis Freund M. es fotografierte und vom "Klick" aufgeschreckt, sauste es zurück in den Wald.

Das alles sind kleine Begebenheiten, die aber alle zur Heilung beitragen. Achtsamkeit eben.

Man achtet sehr auf sich. Wenn während der Entgiftung die Medikamente allmählich zurückgefahren werden, beginnt es schon. Die ersten Tage kann man sich gar nicht mehr vorstellen wie es ist, gesund und fit zu sein. Aber es kommt wieder.

Unser Körper ist schon ein ziemliches Wunder. Da vergiftet man das gute Stück lange Zeit mit Nervengiften und trotzdem kann man wieder vollständig gesund werden.

Allerdings nicht jeder. Je nach Menge und Dauer des Konsums entstehen natürlich Schäden, die irreparabel sind. Leberzirrhose ist z.B. so ein Schaden. Das geht nicht mehr weg.
Ich habe es gottseidank "nur" zu einer leichten Fettleber gebracht, die sich gerade wieder normalisiert.

Andere hatten eindeutig zuviel vom Alkohol. Für mich persönlich ist das Korsakow-Syndrom erschreckend. Wenn man das hat, ist das Kurzzeitgedächtnis weg. Unwiederbringlich. An frühere Ereignisse erinnert man sich noch recht gut, aber man muss beispielsweise täglich neu lernen, wie der Geschirrspüler angeht. Dann stellt man ihn an, will es nächsten Tag wieder machen und muss erneut rausfinden, wie zur Hölle das Ding funktioniert.
Oder man sitzt in einer Runde zusammen, die Leute unterhalten sich und der-/diejenige mit dieser Krankheit fragt nach 5 Minuten exakt das Gleiche nochmal. Und dann nochmal. Das erzeugt natürlich eine gewisse Heiterkeit, aber nach einiger Zeit ist es anstrengend und dann dämmert es einem, dass der Patient/die Patientin eventuell ihr Hirn zu Hirsebrei gesoffen hat.

Ich selber habe mir vor 8 Jahren ziemlich meine Bauchspeicheldrüse zerledert. Ihr geht es jetzt ganz gut, aber ich muss tierisch aufpassen, was ich esse. Reichlich überbackener Käse? Blöde Idee. Scharfes Essen? Mjam. Aber blöde Idee. Eingelegtes Gemüse? Könnte ich mich reinlegen, aber...japp, blöde Idee.

Let's face it: Alkohol ist NICHT gesund. Auch nicht das abendliche Glas Rotwein.

Wenn ich wirklich alt bin, bin ich ziemlich gespannt auf das, was mein Körper mir dann sagen wird.

Aber seit 44 Tagen bin ich wieder trocken und ich merke, wie ich immer fitter werde. Ich keuche sogar nicht mehr wie ein asthmatischer Seehund, wenn ich den "Berg" hochkraxel. Ich habe einen gesegneten Appetit, was sich allmählich in einem sehr deutlichen Wämplein zeigt. Mist. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist mein Inneres und dass der Kampf irgendwann ein wenig leichter wird.

Der Druck kommt nämlich immer noch regelmäßig. Ich bin abstinent, aber noch nicht zufrieden damit. Daran werde ich diese Woche verstärkt dran arbeiten.

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"Der Druck kommt nämlich immer noch regelmäßig."

"...verstärkt dran arbeiten."

Hmm... Hmmmm.... Hmmmmmmmm.... :)

Dieses Dilemma, dass man einen überaus hartnäckigen inneren Druck "verarbeiten" soll, und das möglichst effizient/schnell: Gibt es das eigentlich auch in anderen Lebensbereichen? In SHG (dazu hast Du ja schon einen Betrag angekündigt) trifft man öfter Menschen, die über diese Gelassenheit reden, die sie sich "hart erarbeitet" haben. Ist immer schwer zu verstehen, was damit gemeint ist, weil es sich (zumindest für mich) wie ein Widerspruch anhört - "harte Arbeit" hat etwas Verkrampftes, Angestrengtes, und das soll zu Gelassenheit führen?

Will sagen: Suchtkranke vollbringen in der Abstinenz mitunter Kunststücke, die von außen betrachtet etwa Unerklärliches haben können. (Und vielleicht braucht es auch einfach einen anderen Begriff für das, was mensch da leistet; mir ist nur noch keiner zu- oder eingefallen, der es besser trifft.)

Komm gut durch die heißen Tage, und gönn Dir nach der "Arbeit" immer auch ausreichend Entspannungspausen ;)

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Hmmmm. Für mich persönlich ist harte Arbeit eher entspannend. Ich könnte es in "schwere" Arbeit umsetzen, aber das will ich nicht. Du weißt es doch auch: trocken zu bleiben und eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit den fröhlich zechenden Mitmenschen aufzubauen, IST hart. Anders kann ich es nicht beschreiben. Was sagst Du denn dazu?

Und ich bin nicht verkrampft dabei. Ich verkrampfe ganz im Gegenteil, wenn ich trinke. Weil mein Unterbewusstsein genau weiß, welche Scheiße ich da gerade baue.

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Ich hab längere Zeit über Deine Frage nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen: Ich finde es nicht hart, angesichts trinkender Menschen gelassen bzw. abstinent zu sein und zu bleiben - die Alternative ist nämlich der völlige Scheiß, Absturz und Verrecken und so, und da fällt mir die Entscheidung wirklich jeden Tag wieder ganz leicht.

Vermutlich habe ich mit meinem eingebauten Akzeptanzmodul einfach Glück, oder es liegt daran, dass ich mich sehr schnell und konsequent auf neue Umstände einstellen kann (eine Folge meiner Kindheit, in der ich krasse Anpassungsleistungen erbringen musste; Ambivalenz hat ja immer zwei Seiten :D ), oder ich habe meinen eigenen Absturz und den anderer Leute (auch nach meiner Abstinenz; ich hatte eine SHG in einer Klinik, das war jede Woche Extrem-Dejavuing; müsste in Deiner Klinik auch so sein, oder?) so intensiv erlebt, dass mir ein nachhaltiger Schrecken eingebaut wurde, oder, oder, oder...

Keine Ahnung, was davon es ist - auf jeden Fall finde ich die Antwort auf die Frage, ob ich elend vorzeitig im Dreck verrecken oder doch noch ein paar schöne Jahre haben will, nicht besonders schwierig. Ich hab auch so meine dunklen und schlechten Zeiten - und ich weiß genau, ich weiß sogar sehr, sehr genau, dass ich im Suff nie wieder Licht sehen würde.

Und das reicht mir, um entspannt trocken zu bleiben. Ich finde das nicht hart. Ich hab dauernd trinkende Leute vor der Nase (wer hat das nicht, in Deutschland wird halt überall und immer gesoffen), und ich hab auch schon auf einem 50. Geburtstag die Theke gemacht (da floss reichlich Bier und Wein bis spät in die Nacht; Hefeweizen kann ich immer noch blitzschnell mit fester Krone einschenken; ich hatte als Höhepunkt ein Glas Cola), und nichts davon tangiert mich oder reizt mich oder kann mich erschüttern.

Arbeit ist das nicht. Das ist einfach so. Fertig.

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Wie praktisch, wenn man über ein eingebautes Akzeptanzmodul verfügt. Aber ich glaube Dir nicht, dass das einfach so nach Therapie und Entgiftung wuschplopp da war. Das wirst Du dir genauso erarbeitet haben wie alle anderen auch.

In den 8 trockenen Jahren war es für mich auch nicht schwer, gelassen und entspannt zu bleiben. Aber der Weg dorthin kam nicht aus heiterem Himmel.

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Es war so, ich war einfach "wuschplopp" abstinent und bin seitdem (abgesehen von der obligatorischen einen Sekunde pro Monat, wo mein Suchtgedächtnis auch nochmal was melden will; ich bin halt Alki und werde es für den Rest meines Lebens bleiben) zufrieden und widerstandslos trocken.

Dass Du mir nicht glaubst, erinnert mich an die Geschichte von dem einen Typen (ehemaliger Bundeswehrgeneral oder so), der einer neu in der Selbsthilfegruppe angekommenen, frisch trockengelegten Frau auf den Kopf zusagte, dass sie ja sowieso wieder anfangen würde zu saufen, der hatte eventuell einfach von sich auf andere geschlossen. Wo hab ich diese Geschichte bloß gehört? ;)

Und im Ernst: Das ist keine Angeberei, das ist wirklich so. Ich weiß aus Erfahrung, Beobachtung und Statistiken, dass es solche Suchtkranken wie mich, die im ersten Anlauf gleich trocken bleiben, eher selten gibt (wohl um und bei ein Prozent aller Menschen, die eine Entgiftung absolvieren), und trotzdem gibt es sie. Akzeptanz hat übrigens auch immer zwei Seiten... ;)

Und vielleicht hat mir neben den anderen schon genannten Faktoren auch geholfen, dass ich den ganzen Zinnober mit der Zufriedenheit als Grundlage der Abstinenz und mit der Auseinandersetzung mit den Ursachen meiner Sucht wirklich intensiv betrieben habe (Therapie und SHG und noch viel mehr, ich hab mich die ersten drei oder vier Jahre nach meiner Entgiftung sehr intensiv damit auseinandergesetzt, da bin ich jetzt wesentlich entspannter, auch wenn ich immer, immer im Thema drin bin) - ich wollte wirklich nicht verrecken, nicht so, nicht für das Dreckszeug, nicht für meine kaputte Kindheit.

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Ok, dann glaube ich Dir :) Es klang ein wenig überheblich und tatsächlich nach "Struuuunz" *g*. Ja, ich weiß dass es solche Menschen gibt, denen die Abstinenz leicht fällt. Dazu gehörte ich lustigerweise ja auch 7 Jahre, bis es letztes Jahr wieder anfing, so richtig zu nerven. Und ich dann nachgegeben hatte. Tscha.

Und ich war sehr zufrieden mit mir und meinem schnuckeligen Leben, es war fein. Das wird es auch wieder, da bin ich mir sicher. Ich weiß ja, dass es geht.

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(Woher kennst Du denn das Wort "strunzen"? Das ist so Ruhrpott, das höre ich im Norden quasi nie. Ich mag den Dialekt und die Leute.)

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Weil ich a) ganz viele Freunde im Ruhrpott habe und ab und an da bin und b) ich das Wort mag :D

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