Sonntag, 9. August 2020
Selbsthilfegruppen aka SHGs
Ja, das ist auch so ein Thema. Jederzeit hört und liest man, dass eine SHG unerlässlich ist auf dem Weg zur zufriedenen Abstinenz. Durch die Gemeinschaft mit anderen Süchtigen erkennt man, dass man nicht alleine ist und der Zusammenhalt in der Gruppe soll Hilfe bieten.

Meine Erfahrungen waren anders.

Während der Langzeittherapie kamen alle zwei Wochen Vertreter der unterschiedlichsten SHGs in die Klinik, um sich vorzustellen und das jeweilige Konzept zu erläutern.

Ich bin also brav zu einer Gruppe getapert. Die Mitglieder waren im Durchschnitt 20 bis 30 Jahre älter als ich und direkt nach meiner Vorstellung brummte ein ehemaliger Bundeswehrgeneral: "Du bist noch viel zu jung, Du säufst sowieso ganz schnell wieder."

Ich war damals 44. Und nach dieser warmherzigen Ansprache war DIESE Gruppe für mich sofort erledigt. Selbsthilfe. Pah, wohl eher Selbsthilfe zur Erniedrigung und Runterziehen.

Also eine neue gesucht. Ich hatte nach der Langzeit noch eine ambulante Nachsorge in einer Frauengruppe, da gibt es auch eine SHG. Also da mal hin. Problem eins: nicht alle waren schon trocken und frisch aus der Therapie neben einer Frau zu sitzen, die eine Fahne von hier bis Meppen vor sich her atmete: schwierig. Problem zwei: Männer sind und waren in dieser Einrichtung - aus Gründen - nicht erlaubt. Das nahm die Mehrheit der Gruppe als Gelegenheit wahr, sämtliche Probleme (auch und vor allem die Sucht) auf Männer zu schieben. Ausschließlich. Es gab keinerlei Selbstreflektion, die Männer sind an allem schuld, fertig, aus.

Das erschien mir doch sehr einfach gedacht und für mich wirklich nicht so ganz das Passende zu sein. Ich mag Männer und komme mit 99% wunderbar aus. Das andere eine Prozent ist doof, fertig :D Also auch diese Gruppe verlassen.

Dann hab ich mal die AAs (Anonyme Alkoholiker) probiert. Erst als reale Gruppe in der Nachbarschaft. Eigentlich nette Menschen, aber für mich persönlich war genau diese Gruppe viel zu religiös. Es wurde zum Gebet im Kreis stehend aufgefordert und mir stellten sich die Nackenhaare hoch. Ich und Kirche? Nein. Das geht einfach nicht. Das muss ich auch nicht groß erklären, ich lehne diese Art der Religion ab, Punkt.

Nö, das war auch nix. Also mal die AAs online versucht. Argh. Genau das gleiche. Irgendeine höhere Macht soll helfen, den Kampf zu gewinnen.
Nee, lasst man. Ich mach das alleine.

Und so habe ich das Projekt SHGs für mich damals aufgegeben. Ich wurschtel lieber so für mich alleine herum, herzlichen Dank, aber nein Danke.

Mittlerweile denke ich da ein wenig anders. Nach diesem Rückfall, der mich unglaublich viel Energie gekostet hat, habe ich beschlossen, mich erneut intensiv mit dem Thema SHG auseinanderzusetzen. Es gibt so irrsinnig viele, eine MUSS doch für mich passen.

Feinerweise hat mich ein Ex-Mitpatient zu seiner SHG eingeladen. Die ist nicht so weit weg von meiner Wohnung und gut mit den Öffis zu erreichen. Und sie ist abends, also auch mit einem eventuellen Job zu vereinbaren. Ich werde wohl bereits von hier aus damit beginnen, die Therapeutin findet die Idee sehr gut.

Also werde ich in den letzten vier Wochen hier im September immer Mittwochs in die große Stadt fahren und erst spät abends wieder zurückkommen. Hu, den Wald und den Berg alleine im dunkeln...*g* Aber wozu hat ein Handy eine Taschenlampe, nä?

Ansonsten lebt es sich hier während der Hitze noch langsamer als eh schon. Den Speiseplan ignoriere ich teilweise, weil Bohneneintopf bei 35° finde ich grausam. Ich hab für derlei Fälle immer Obstgrütze im Kühlschrank. Das Essen darf man nämlich nicht einfach so ausfallen lassen, leider.

Wir beschäftigen uns mit Wasserbomben und entsprechenden Wasserschlachten. Das innere Kind wieder entdecken, viel lachen, viel Bewegung und viel Gekreische. Herrlich!

Und eigentlich wollte ich heute wieder Blaubeermuffins backen, aber ganz ehrlich? Nö.

Habt einen schönen Sonntag und: viel trinken! ;)

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Mittwoch, 5. August 2020
Spätfolgen und kleine Schritte
Tachschön! Juchu, wir werden noch einige heiße Tage bekommen, bevor der Herbst anklopft. Freund T. schaudert es bereits, er hasst Sommer. Ich liebe es. Und da ich hier "oben aufm Berg" weder U-Bahnen noch verschwitzte Menschenmassen, weder Staus noch Gedrängel habe, habe ich natürlich leicht reden. :)

Hier ist Wald, ist es relativ angenehm unter den Bäumen. Ich werde mir in den freien Stunden eine Decke schnappen und mich unter die alte Eiche platzieren, Buch und Getränk in Griffweite. Ok, hier sind eklig viele Zecken, aber das wird schon schiefgehen.

Samstag ist ein Grillabend geplant und ich sehe zu, dass ich Scampis organisiere. Aber ich freue mich tierisch drauf, obwohl grillen ja nun für normale Leute nix Besonderes ist. Für mich aber schon.

Heute ganz früh kam ein Reh vorbei und hatte uns in dem Glaskasten (Raucherpoint) nicht bemerkt. Hübsches, junges Tier, es äste friedlich vor sich hin und mümmelte an den Blümchen und Gräsern. Bis Freund M. es fotografierte und vom "Klick" aufgeschreckt, sauste es zurück in den Wald.

Das alles sind kleine Begebenheiten, die aber alle zur Heilung beitragen. Achtsamkeit eben.

Man achtet sehr auf sich. Wenn während der Entgiftung die Medikamente allmählich zurückgefahren werden, beginnt es schon. Die ersten Tage kann man sich gar nicht mehr vorstellen wie es ist, gesund und fit zu sein. Aber es kommt wieder.

Unser Körper ist schon ein ziemliches Wunder. Da vergiftet man das gute Stück lange Zeit mit Nervengiften und trotzdem kann man wieder vollständig gesund werden.

Allerdings nicht jeder. Je nach Menge und Dauer des Konsums entstehen natürlich Schäden, die irreparabel sind. Leberzirrhose ist z.B. so ein Schaden. Das geht nicht mehr weg.
Ich habe es gottseidank "nur" zu einer leichten Fettleber gebracht, die sich gerade wieder normalisiert.

Andere hatten eindeutig zuviel vom Alkohol. Für mich persönlich ist das Korsakow-Syndrom erschreckend. Wenn man das hat, ist das Kurzzeitgedächtnis weg. Unwiederbringlich. An frühere Ereignisse erinnert man sich noch recht gut, aber man muss beispielsweise täglich neu lernen, wie der Geschirrspüler angeht. Dann stellt man ihn an, will es nächsten Tag wieder machen und muss erneut rausfinden, wie zur Hölle das Ding funktioniert.
Oder man sitzt in einer Runde zusammen, die Leute unterhalten sich und der-/diejenige mit dieser Krankheit fragt nach 5 Minuten exakt das Gleiche nochmal. Und dann nochmal. Das erzeugt natürlich eine gewisse Heiterkeit, aber nach einiger Zeit ist es anstrengend und dann dämmert es einem, dass der Patient/die Patientin eventuell ihr Hirn zu Hirsebrei gesoffen hat.

Ich selber habe mir vor 8 Jahren ziemlich meine Bauchspeicheldrüse zerledert. Ihr geht es jetzt ganz gut, aber ich muss tierisch aufpassen, was ich esse. Reichlich überbackener Käse? Blöde Idee. Scharfes Essen? Mjam. Aber blöde Idee. Eingelegtes Gemüse? Könnte ich mich reinlegen, aber...japp, blöde Idee.

Let's face it: Alkohol ist NICHT gesund. Auch nicht das abendliche Glas Rotwein.

Wenn ich wirklich alt bin, bin ich ziemlich gespannt auf das, was mein Körper mir dann sagen wird.

Aber seit 44 Tagen bin ich wieder trocken und ich merke, wie ich immer fitter werde. Ich keuche sogar nicht mehr wie ein asthmatischer Seehund, wenn ich den "Berg" hochkraxel. Ich habe einen gesegneten Appetit, was sich allmählich in einem sehr deutlichen Wämplein zeigt. Mist. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist mein Inneres und dass der Kampf irgendwann ein wenig leichter wird.

Der Druck kommt nämlich immer noch regelmäßig. Ich bin abstinent, aber noch nicht zufrieden damit. Daran werde ich diese Woche verstärkt dran arbeiten.

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Sonntag, 2. August 2020
Was ist Suchtverlagerung?
Via Facebook entstand kürzlich ein kleiner Disput mit Kumpel R., der meinte, dass ich den Suchtdruck ja anders abbauen könnte, z.B. indem ich ein "Tütchen rauchen" könnte.

Öhm. Nö. Blöde Idee. Ganz blöde.

Ich gehöre zu den Menschen, die unterschiedliche Dinge ziemlich extrem betreiben. Also wenn ich mal etwas mag, dann mache ich es auch richtig (Wie meinte Freund B. kürzlich über meine Liebe zum MCU? "Ähem, das ist etwas eskaliert bei Dir...") Und laufe dabei des öfteren in Gefahr, in eine andere Sucht zu rutschen. Das geht den meisten Süchtigen so.

Während der Langzeittherapie vor 8 Jahren hatte ein Mitpatient seine Alkoholsucht auf Spielsucht geändert. Er saß den lieben langen Tag vor dem einzigen PC in der Cafeteria und daddelte irgendein 3-gewinnt-Spiel. Stun-den-lang.
Was zum einen natürlich nicht gut für ihn war (man sollte exzessives Daddeln tunlichst vermeiden, auch ohne eine andere Sucht), zum anderen aber auch für die anderen Patienten ziemlich ärgerlich, weil der PC dazu gedacht war, in Kontakt mit Ämtern, Behörden, Jobbörsen etc. zu treten. Ihn da mal für 5 Minuten weg zu bekommen, artete regelmäßig in Gebölk und Schimpfen aus. Beiderseits.

Und Tütchen rauchen geht halt schon mal gar nicht. So angenehm es wäre, mal das Hirn mithilfe von anderen Substanzen ausknipsen zu können: das gilt nicht für Suchtkranke. Niemals. Wir haben eine Affinität zu Rauschmitteln aller Art. Nicht nur BTM, sondern das kann sich auch als Sportsucht, Sexsucht oder anderes darstellen.

Die Balance zu finden, das ist der Knackpunkt. Ich habe für mich als Beispiel stricken wiederentdeckt. Vor 8 Jahren fing ich an und seitdem ver- und bestricke ich alles, was bei drei nicht aufm Baum ist.

Letzten Winter habe ich 40 Paar Socken fabriziert und sie dann zum Elbschlosskeller gebracht. Hey, Neil Gaiman hat meinen Tweet darüber gefavet! (immer noch werde ich knallrot werde bei dem Gedanken daran...). Derzeit fummel ich an einem Pulli herum, danach wird eine Jacke dran sein. Mal so zwischendurch gab es ein Paar Bettsocken aus quietschgelber Flauschwolle für eine Mitpatientin.
Bin ich "leicht" stricksüchtig? Jupp. Auf jeden Fall. Wenn ich keine Wolle mehr habe, ribbel ich alte Pullis auf und stricke sie nochmal. Ich habe mir tatsächlich aus dem Hobby eine Suchtverlagerung gestrickt (sic!).

Allerdings finde ich das nicht wirklich schlimm. Ich regel ja nach wie vor meinen Tagesablauf, also ich räume auf, putze, gehe duschen, koche Essen und gehe - irgendwann mal wieder - arbeiten. Und freue mich wie ein kleines Kind auf den Abend, wenn ich mich wieder kopfüber in meinen riesigen Wollkorb werfen kann :)

Aber die Alkoholsucht auf anderen Konsum zu übertragen ist nun mal nicht ratsam.

Man bekämpft eine Sucht nicht dadurch, dass man einfach etwas anderes konsumiert. Das geht in 99 % der Fälle in die Hose. Sei es Hasch oder Essen.

Während der 4 Monate damals wurde seitens der Einrichtung auch bei den Mahlzeiten tatsächlich darauf geachtet, dass es nicht zu viel gab. Die Therapeuten wussten sehr genau, dass man anfängt, Schokolade und Chips einzuatmen. Daher gab es eine niedrig angesetzte Kalorienzufuhr, weil sowieso jeder nachmittags und Abends in die Cafeteria sauste und sich mit Naschkram eindeckte.
I ch hatte damals jeden Abend eine Tafel Ritter Sport Vollnuss weggeatmet. Und hab trotzdem abgenommen, weil das Sportprogramm für mich olle Sofakartoffel sehr toll war.

Es gibt vielerlei Süchte. Und Fresssucht betrachte ich nicht viel anders als Alkoholsucht. Es ist gefährlich für den Körper und man sieht es einem an. Allerdings nimmt das Hirn nicht so einen Schaden, wie es bei Alkohol nach langem, regelmäßigem Konsum leider vorkommt.

Der schöne Satz "Alles in Maßen" trifft für uns Alkis natürlich auch nicht mehr zu. "Alles bis auf sämtliche bewusstseinsverändernde Substanzen, und dann bitte auch hier maßhalten" trifft es schon eher.

Von daher: Tütchen rauchen is nich. Da stricke ich lieber noch 100 Paar Socken :D

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