Freitag, 10. Juli 2020
Tag 4 in Bullerbü
Es regnet unentwegt, die Laune der meisten Mitpatienten sickert gen Waldboden. Ich sitze morgens um 6:00 Uhr alleine im Rauchhäuschen, lausche dem sanften Regen, höre den Vögeln zu und finde alles herrlich. Wenn das so weitergeht mit meiner Entspannung, kann ich die doofen Blutdrucksenker bald absetzen.

Die Menschen hier sind natürlich alle krank, wir sind fast alle Alkoholiker. Sehr viele sind zum wiederholten Mal in Therapie bzw. Vorsorge, weil sie den Kampf immer wieder verlieren.

Bei mir ist es jetzt "erst" das zweite Mal. Und ich merke immer deutlicher, dass diese Entscheidung absolut richtig war. Meine Bezugstherapeutin ist eine sehr coole Frau, die anpackt und hilft, wenn es Probleme gibt mit Ämtern, Behörden, Krankenkassen (Hallo, Krankenkasse! Fühl Dich mal angestupst!).
Die Gelassenheit, die ich in den ersten Jahren nach der Langzeittherapie im Hansenbarg hatte, kehrt allmählich zurück. Wenn Mitpatienten sich über Nickeligkeiten aufregen ("Iiiih, Reis! So 'ne Scheiße!" "Bäh, nur 3 Sorten Aufschnitt!" "Scheißregen!") lächel ich milde wie ein kleiner dicker Buddha und denke mit Den Ärzten "Lasse reden".
Man kann es nun mal nicht ändern und es ist auch nicht wichtig. Das einzig wirklich wichtige hier: Achtsamkeit gegenüber sich selber. Man muss einen gesunden Egoismus entwickeln, um erst an sich und dann an alle anderen zu denken.

Das hatte ich leider mal wieder vergessen bzw. verdrängt. Aber deswegen bin ich ja in erster Linie hier: um meine verdrängten Skills und Fähigkeiten wieder aus dem Unterbewusstsein abzurufen und mit deren Hilfe trocken zu bleiben.

Was übrigens erstaunlich gut hilft und ganz einfach ist: ein Gummiband um's Handgelenk. Immer wenn der kleine Fiesling sich meldet (und der Arsch ist recht aktiv, nach wie vor), nimmt man das Gummiband und lässt es mit Schmackes gegen das Handgelenk schnippsen. Das tut sauweh, weckt einen aber auf. Halt, Moment! Lass den Fiesling nicht wichtig werden. Gib ihm einen Arschtritt und sage ihm, er soll seine Schnauze halten.

Funktioniert prächtig. Sobald ich hier vom Gelände runter darf und mal in's "Dörfli" runterlaufen kann (wir sitzen hier auf so einer Art Berg. Ok, für Süddeutsche ist es kein Berg, für mich Nordseekrabbe aber durchaus) werde ich immer Gummibänder dabei haben.

Ich hab auch so ein Knetmännchen und eine fies stinkende Masse mit Knisterperlen drin, die neongrün ist und eine Konsistenz hat wie...ähm...fester Stuhl. Es ist absolut eklig, damit herumzumatschen. Aber wie sagte meine Bezugspflegerin in der Psychiatrie?: "Frau S., das SOLL eklig sein!" Aber wenn ich das Zeug in einem Bus oder der Bahn auspacke, werde ich das Abteil für mich alleine haben. Nunja, in Coronazeiten vielleicht gar nicht so doof :D

In 20 Minuten soll ich in die Ergo kommen, danach wird ein Suchtfilm geguckt, dann Mittag, dann wieder Ergo (wir stellen gerade sehr hübsche Kunstmappen her mit so einer Kleister-Öl-Technik), dann gibt es noch eine Einweisung für den "Fitnessraum". Ok, es ist wirklich ein Fitnessraum, aber tief im dumpfen, fensterlosen Keller. Ich möchte dort nicht so gerne hin. Keller. Brrr...

Und dann ist Wochenende. Und das Wetter wird wieder besser. Habe ich so beschlossen, so!

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