Donnerstag, 16. Juli 2020
Zu sich kommen...
Das ist auch nicht leicht.

Wie gehe ich persönlich mit den Gefühlen des Versagens und der Scham um?

Zum Ende hin, kurz bevor ich dank der Freundin ins Krankenhaus gekommen bin, fühlte ich mich widerlich. Ich habe mich wieder total gehen lassen. Leere Flaschen in der Küche und im Flur, Abwasch nicht erledigt, keine Wäsche gewaschen, mich selber nicht geduscht (ich hab eine Badewanne und so zittrig wie ich war, traute ich mich nicht da rein), geschweige denn saubere Klamotten am Körper. Und zu dem ganzen Dreck außen kommt dann noch der innere Schmutz:

Ich muss es meinem Bruder sagen, er wird so böse werden. Und so traurig. Ich muss es meinen Freunden sagen. Teilweise werden sie vielleicht den Kontakt abbrechen (das ist vor 8 Jahren sehr sehr häufig passiert), weil mit Trinkern möchte man eher nichts zu tun haben. Aus welchen Gründen auch immer. Ich habe nie nachgefragt.
Ich muss aber in erster Linie mit mir selber klar kommen. Nachforschen, wo die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit nachgelassen hat, bis der Absturz nicht mehr aufzuhalten war.

Und mit Glück habe ich diesen Platz hier gefunden. Die Einrichtung scheint wie für mich gemacht zu sein.

Zum einen ist da die Natur rundherum. Tiefer Wald, viele Blumen, viele viele Vögel, Rehe, Eichhörnchen etc. Ein kurzer Weg durch den Wald und plötzlich steht man mitten in der Lüneburger Heide. In wenigen Wochen wird sie in lila erstrahlen, ich freue mich sehr darauf.
Und es ist ruhig. Selten hört man mal Waldarbeiter oder auch mal ein Auto, aber überwiegend ist es einfach nur: Stille.

Die Dorfkirche bimmelbammelt regelmäßig niedlich vor sich hin, selbst das finde ich beruhigend. Das ist nicht so ein DÖNGELÖNGBONGBING wie in Hamburg, wo alle Kirchen gleichzeitig los scheppern. Sondern ein freundliches Geläut, das Frieden bringt.

Hier wird außerdem viel Wert auf Kunsttherapie gelegt. Man hat alles an Material jederzeit zur Verfügung und bekommt auch Hilfe, wenn man sich nicht so ganz sicher ist, wie etwas geht. Und das ist eine Seite von mir, die ich vernachlässigt habe.

Ich habe schon immer gerne gemalt, gezeichnet und skizziert. Und ich lebe das jetzt voll aus. Mir ist nie langweilig, das ist so toll. In den letzten Monaten bestand mein Tagesablauf - auch wenn ich trocken war - aus Seriengucken und stricken. Sonst nichts.
Hier kann ich zwar auch Serien gucken wenn ich Lust habe, aber ich habe soviel anderes zu tun.

Vorgestern habe ich eine Freihandskizze des niedlichen Holzhauses erstellt, wo unsere Verwaltung und die Krankenschwester arbeiten und diese Skizze arbeite ich jetzt farbig aus. Das sieht nicht gerade wie ein Monet aus, aber auch nicht wie hingekrakelt ;)

Dann stricke ich natürlich weiter, ein schwarzer Baumwoll-Pulli für die kühleren Tage.

Als nächstes werde ich - sobald erlaubt, also ab nächsten Dienstag - nach Hause fahren und meine Gitarre schnappen. Es gibt hier ein Musikzimmer und für Musiktherapie habe ich mich natürlich auch angemeldet.

Und apropos Musik: ich habe Kopien von einem sehr tollen Notenbuch, die aber lose herumfliegen. Da ich hier gelernt habe, wie man Seiten zu einem Buch bindet, habe ich gleich noch ein Projekt am Start.

Und wenn ich alle Fenster schließe, kann auch auch fröhlich loskrähen, ohne das den Mitpatienten die Ohren abfallen *g*

Und dann sind da die Morgende und Abende, wo man alleine am Waldrand sitzt und beobachtet, wie die oberen Baumwipfel plötzlich von der Sonne beleuchtet werden. Und die Nachmittage, wo man auf dem Rücken liegend in die Wolken guckt und immer neue Formen entdeckt. Und die guten Gespräche mit den anderen Kranken hier, die sehr helfen. Weil: man ist nicht alleine mit der Sucht. Anderen geht es ja genau so. Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl hilft auch, sich zu erden.

Und wenn ich mich doch mal blöd fühle, was durchaus vorkommt, dann umarme ich einfach die alte Eiche.

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