Sonntag, 12. Juli 2020
Sonntag in Bullerbü
Die Wochenenden sind je nach Einrichtung immer so eine Sache. Meist kann man nämlich rein gar nichts machen. Alle Räume sind abgeschlossen, kein Fahrradverleih, kein Handarbeiten/Werken, nichts zu tun.

Das klingt entspannend, aber für Suchtkranke ist Nichtstun eher kontraproduktiv. Man kommt nur zu leicht auf dumme Gedanken. Ich gehöre ja zu der Sorte Mensch, die problemlos 6 Stunden lesen kann. Aber ohne Lesesessel und mit einem wahrhaft furchtbaren Bett (Modell Elbe, die Mitte hängt durch...) versehen, geht das nicht lange gut.

Hier ist es allerdings so, dass alle Ergo-Räume täglich von 8 bis 22 Uhr geöffnet sind. Was ich absolut großartig finde. Also versuche ich später mal, eine Vase zu töpfern. Hier wachsen so viele Wildblumen, das gibt einen schönen Sommerstrauss. Also so in 3 Wochen, wenn ich das Dings fertig habe :D

Heute morgen war ich um halb sieben bereits draußen, dampfenden Kaffee in der Hand, Buch in der anderen Hand. Und sah als erstes ein Reh sehr gemütlich über den Vorplatz spazieren. Kurzer Stop, Blick auf mich (gefühlt murmelte es "Moin!") und dann latschte es sehr friedlich rüber in den Wald.

Ich saß also im morgendlichen Licht, schlürfte den Kaffee und fühlte mich rundherum wohl. Bis ein "Kollege" ankam und mich mit "Na, du Blaufußtölpel!" grüßte.

Diese Morgenrunde der Raucher ist meist immer sehr angenehm. Manchmal schweigt man einfach nur zusammen und beguckt sich das viele Grün und die zutraulichen Vögel. Manchmal wird man albern und gackert den Rest der Leute wach. Ab und an wird es auch ernst. Dann platzt irgendetwas aus der Vergangenheit an die Oberfläche wie Schwefelblasen in einem Geysir.

Aber das gehört dazu und trägt auch zur Heilung bei.

Um halb neun gibt es dann Frühstück (Eier, warme Brötchen, Kaffee und was sonst noch dazugehört. Obstsalat, Joghurt etc.) und gegen halb zehn sind wir fertig mit Abwaschen. Das macht eine Maschine, ich muss z.B. nur die heißen Teller, Becher usw. trockenwischen.

Zwischendurch kurz mal Medikamente abholen. Ich kriege nicht viel, nur eine geringe Dosis Antidepressiva und Blutdrucksenker. Mittlerweile aber auch leider täglich Novalgin, weil mein linkes Knie so gar nicht mehr schmerzfrei werden will. Aber das ist lösbar. Nur halt nicht jetzt.

Danach ist Freizeit bis halb eins. Ich sitze z.B. am Schreibtisch und schreibe gerade. Andere sitzen stundenlang in den Raucherecken. Oder gucken Fernsehen. Oder malen, basteln, handwerken, spielen Tischtennis oder pumpen im Fitnessraum.

Sobald ich darf (ab Woche drei), darf ich auch alleine spazieren gehen. Und das erste, was ich erkunden werde ist die Heide. Die beginnt nämlich direkt hinter dem Wald, nur wenige 100 Meter entfernt. Und ein schlauer Mensch hat da Blaubeeren angepflanzt. Alles ist voller Blaubeeren, an denen man sich satt essen kann.

Demnächst gibt es hier Blaubeer-Tarte, das habe ich den Leckermäulchen hier schon versprochen :)

Und nachmittags läuft es ebenso ab. Man kann sich auch in die Sonne legen und einfach in die Wolken gucken. Was ich übrigens sehr empfehlen kann. Und wenn man dabei sanft wegschlummert, dann ist es auch in Ordnung.

Man heilt hier seelisch, ich merke es jeden Tag mehr. Bzw. - ich kann ja nicht für die anderen 30 Menschen hier sprechen - ICH heile hier. Ich bin hellwach, konzentriert auf meine Ziele und gleichzeitig entspanne ich immer mehr.

Eigentlich sollte ich der Mitpatientin, die mir noch im Krankenhaus von dem Ort hier erzählt hatte und jetzt auch hier ist, irgendwas Gutes tun. Blümchen? Ein selbstgemachter Seidenschal? Hm. Ich gehe mal in mich.

Habt einen schönen Sonntag da draußen!

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